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Die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind.
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Peter Reifegerste
Peter
Reifegerste

Kurzgeschichte, Satire, Sarkasmus

Bis meine Mama kommt

Oder: Alltag aus der Sicht eines kleinen Jungen.
Nach einer wahren Begebenheit.

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Die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind.


Kurzgeschichte von Peter Reifegerste

Bis meine Mama kommt

Oder: Alltag aus der Sicht eines kleinen Jungen.
Nach einer wahren Begebenheit.

Mutter weckt mich. Es ist noch früh und draußen ist es dunkel. Sie macht mir das Frühstück.
"Wo ist Papa?", frage ich.
"Er ist schon längst auf der Arbeit. Bist du fertig? Wir müssen los."
Mutter muss zur Arbeit. Sie ist Schneiderin. Und ich muss in den Kindergarten.

Ich sitze im Kindersitz vorne auf Mutters Fahrrad und wir fahren auf einer langen, einsamen und dunklen Landstraße entlang. Der Fahrradsitz ist so angebracht, dass ich meine Mutter während der Fahrt ansehen kann. In der Dunkelheit kann ich ihr Gesicht nicht genau erkennen, nur ab und zu erhellt das Mondlicht oder ein vorbeifahrendes Auto ihre Gesichtskonturen. Aber ich höre ja ihre Stimme, die unaufhörlich redet und so viel zu erzählen hat. Vieles verstehe ich nicht, aber das macht nichts, ich höre ihr gerne zu.
"Pass auf, dass deine Füße nicht in die Speichen kommen", sagt sie zu mir mit besorgter Stimme. "Du musst die Beine etwas abspreizen. Hörst du?" Ohne meine Reaktion abzuwarten, schwenkt ihre Stimme dann wieder in die gewohnte Tonlage ein.

Gleich müssen wir durch dieses kleine Wäldchen fahren, dann wird es noch ein bisschen dunkler, als es sowieso schon ist. Hier hat Mama immer Angst, weil sich im Wald jemand verstecken könnte. Das sagt sie mir natürlich nicht, doch ich spüre es an ihrer Stimme, die sich dann immer ein kleines bisschen verändert. Ich spüre sowieso immer genau wie sie sich gerade fühlt, auch wenn sie es vor mir verbergen will. Ich brauche sie dazu einfach nur anzuschauen und fühle all Ihre Gedanken.
Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und schaue in den riesigen, dunklen Sternenhimmel über mir, während die Baumwipfel rechts und links neben meinem Kopf vorbeiziehen.

Endlich haben wir das Wäldchen hinter uns. Irgendwie bin ich auch froh darüber, denn die vielen Schatten, die sich im Wind hin und her wiegen, sehen schon gespenstisch aus. Es ist ein langer Weg mit dem Fahrrad zum Kindergarten und es ist kalt.

Wieder kommt uns ein Auto entgegen und die Scheinwerfer erhellen ein weiteres Mal für einen kurzen Moment Mutters Gestalt. Ich schaue in diesem Moment direkt in ihr Gesicht, in diese vertrauten Züge, in diese lachenden Augen, die mich zwischendurch immer wieder für einen kurzen Moment anschauen und dann wieder zurück auf die Strasse blicken. Ich kann darin ablesen, wie sie sich fühlt. Gerade jetzt überlegt sie, was sie heute Abend einkaufen muss und ob ihr Geld dafür reicht. Die Worte aus ihrem Mund sprechen allerdings vom Kindergarten und was wir da gerade so machen, was es denn gestern Mittag zum Essen gab, und .... Und dann ist das Auto an uns vorbeigefahren und ihr Gesicht ist wieder in der Dunkelheit verschwunden.

"Warum fahren wir nicht mit dem Auto?" frage ich.
"Das Auto hat Papa," antwortet sie. "Er braucht es, um Geld zu verdienen."

Viel zu schnell sind wir am Kindergarten angekommen. Es ist früh am Morgen und die hohe Eingangstür zum Gmeindehaus ist noch verschlossen. Die Dunkelheit und der kalte Wind wehen mir ins Gesicht, als sie mich aus dem Fahrradsitz hebt und wir uns auf die oberste Treppenstufe vor diese riesige, verschlossene Tür setzen. Sie muss gleich weiter zur Arbeit fahren und Männerhosen im Akkord nähen. Sie darf nicht zu spät kommen, wir brauchen das Geld.

Nun schaut sie mich mit diesem Lächeln an, das ich so genau kenne, weil es nicht zu ihren sorgevollen Augen passt. Sie zurrt nervös noch mal hier und da an meiner Jacke und der Pudelmütze herum und bindet mir noch mal den Schal zurecht, obwohl er perfekt sitzt.
Plötzlich fängt sie an wieder so schnell zu reden, wie vorhin, als wir durch das Wäldchen fuhren. Währenddessen erhebt sie sich ganz langsam von der Treppenstufe und geht eher beiläufig auf ihr Fahrrad zu.

Jetzt kommt der Moment, vor dem ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet habe. Und da ist auch wieder diese Zerrissenheit in ihrer Mimik, die sie doch so gerne vor mir verbergen würde. Ihr Gesicht verrät mir, dass sie es hasst, was sie jetzt zu mir sagen muss, weil es ihr wie jeden morgen das Herz zerreissen wird.

"Ich muss jetzt los fahren," sagt sie zu mir. "Du bleibst hier schön sitzen. Du weißt doch, gleich kommt die Kindergärtnerin und lässt dich rein."
Ich möchte ihr am liebsten zurufen: "Mama, bitte, so warte doch, nur noch einen Augenblick, bis es heller wird und jemand kommt. Ich habe Angst so ganz allein." Aber ich bekomme keinen Ton heraus. Nur meine Tränen kullern unaufhaltsam über die Wangen in meinen Schal.
"Du musst jetzt nicht weinen, mein Kleiner, es kommt bestimmt gleich die Kindergärtnerin und schließt die Tür auf", sagt sie zu mir, während sie bereits mit einem Fuß auf der Fahrradpedale steht und den Lenker in den Händen hält. Mit einem letzten Schwung bringt sie das Fahrrad ins Rollen und stellt auch den anderen Fuß auf die Pedale.
"Du brauchst doch keine Angst zu haben", höre ich sie sagen, "du bist du doch schon ein großer Junge."
Dann fährt sie einfach los und lässt mich allein in der Dunkelheit zurück. Zurück vor dieser riesigen, verschlossenen Tür. Beim Wegfahren winkt sie mir zu: "Und denk daran, heute Abend, wenn es dunkel wird, hole ich dich wieder ab!"

Langsam verschwindet ihre winkende Hand in der Dunkelheit und dann ist sie ganz verschwunden. Und obwohl ich doch schon ein großer Junge bin, rollen meine Tränen weiter in meinen Schal.

Mein Tag im Kindergarten. Ich fühle mich trotz der vielen Kinder und der vielen Spielsachen irgendwie immer einsam. Mittags sitzen wir alle zusammen an einem großen Tisch und ich muss dieses Leberwurstbrot essen, das vor mir auf dem Teller liegt. Ich mag kein Leberwurstbrot, ich muss dann immer brechen. Aber keiner glaubt mir.

Alle Kinder haben schon aufgegessen und dürfen jetzt weiterspielen. Nur ich sitze allein an diesem riesigen Tisch vor meinem stinkenden Leberwurstbrot. Ich darf erst aufstehen und mit den anderen spielen, wenn ich dieses Brot aufgegessen habe. Es kommt mir vor, als sitze ich hier schon eine Ewigkeit. Aber es nützt nichts, ich muss diese Brotscheibe schließlich essen. Schluck! Würg! Oh, ich hasse Leberwurst.
Endlich darf ich aufstehen und zu den anderen Kindern gehen. Ich bekomme Bauchweh. Ahhh, mir ist schlecht, ich muss mich übergeben. Die anderen Kinder lachen mich aus, weil ich es nicht mehr bis zur Toilette geschafft habe und die Kindergärtnerin schimpft mit mir, weil sie jetzt den Boden aufwischen muss.

Ist es schon Abend? Ist es schon dunkel?

Endlich, Feierabend im Kindergarten. Nach und nach werden die Kinder von ihren Eltern abgeholt. Sie freuen sich, lachen, kreischen und laufen durcheinander und verabschieden sich schließlich voneinander. Dann sind alle gegangen, nur ich bleibe zurück, während die Kindergärtnerin sich zu mir setzt und wir in der großen Eingangshalle auf Mama warten.

Ganz langsam wird es draußen dunkler...

Sie ist nett. Sie erzählt mir, das sie auch einen Jungen hat, der ist aber schon ein bisschen älter als ich und geht schon zur Schule. Ein weiß das. Sie hat es mir schon letzte Woche erzählt, während wir zusammen auf meine Mutter warteten.

Und langsam, ganz langsam wird es draußen immer dunkler...

Plötzlich geht die Eingangstür auf und ein Mann und ein Junge betreten die Halle. Sofort glänzen die Augen der Kindergärtnerin und der Junge läuft fröhlich auf sie zu, um sie zu begrüßen. Während sie sich unterhalten, schauen sie immer mal wieder verstohlen zu mir herüber. Das bemerkt auch eine Putzfrau und geht auf die kleine Gruppe zu: "Sie können ruhig nach Hause gehen," sagt sie zur Kindergärtnerin. "Wir haben hier noch eine Weile zu tun und in der Zeit passen wir auf den Jungen auf."
Mir zugewandt fragt mich die Putzfrau: "Wo ist denn deine Mama, Kleiner? Wirst du denn nicht abgeholt?"

Jetzt IST es draußen dunkel. WO BLEIBT SIE?...

Dann, endlich ist sie da. Ich bin überglücklich und laufe in ihre ausgebreiteten Arme. Mama sieht sorgenvoll und gehetzt aus, versucht es aber vor uns zu verbergen, während sie sich mit den Putzfrauen unterhält. Ich verstehe nicht worüber sie reden, aber ich spüre gelegentlich die ein oder andere Hand, die mir über den Kopf streicht. Dann verabschieden wir uns und winken den Reinmachefrauen zum Abschied noch zu, denn jetzt geht es endlich nach Hause.

Ich sitze wieder vorne auf Mutters Fahrrad, schau ihr ins Gesicht und wir fahren in die Dunkelheit hinein, auf der langen Straße, zurück nach Hause. Ich bin glücklich. Es ist ein langer Weg, aber ich merke es gar nicht, denn Mama ist wieder da. Wieder kommen wir an dem kleinen, dunklen Wäldchen vorbei, aber wir haben jetzt überhaupt keine Angst mehr vor den vielen Schatten. Ich verziehe mein Gesicht zu einer Fratze und schneide ihnen eine Grimasse. Buh! Ätsch! Mama fragt mich, was ich alles so gemacht habe im Kindergarten.
"Sie haben mir nicht geglaubt, dass ich nach Leberwurst immer brechen muss," sage ich.
"Wenn wir zu Hause sind, werde ich dir etwas Schönes kochen," tröstet sie mich. "Was möchtest du denn gerne essen?"
Ich weiß nicht. Alles was meine Mama kocht, schmeckt gut.

Zu Hause angekommen macht sie schnell den Holzofen an und bereitet mir meine Lieblingssuppe zu.
"Wann kommt Papa", frage ich.
"Er arbeitet noch," antwortet sie leise. "Er kommt heute nacht, aber dann schläfst du längst. Aber am Sonntag werden wir alle zusammen sein und essen. Dann hat Papa frei. Oder hat er dann Schichtdienst? Na ja, dann eben nächste Woche."
"Wann ist nächste Woche?", frage ich. "Ist das morgen?"

Ich muss ins Bett, denn morgen müssen wir wieder früh aufstehen. Mama muss nähen und ich muss in den Kindergarten. Oje, der Kindergarten. Den ganzen, langen Tag allein mit meinem stinkenden Leberwurstbrot. Bis zum Abend, bis es dunkel wird - bis meine Mama kommt...



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