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Kurzgeschichte, Satire, Sarkasmus
Die Welt aus der Sicht eines sensiblen Kindes.
Nach einer wahren Begebenheit.
Als Kind hatte ich einen Spielkameraden, den nur ich sah. Entweder spielten wir zusammen oder er erzählte mir eine Geschichte. Manchmal brachte er auch noch einen Freund mit. Es war immer sehr lustig und spaßig und die Zeit verging wie im Fluge.
Der Geruch von Salz und Meer, der Anblick des weißen langen Sandstrandes mit Muschel- und Schneckenschalen oder die mit Strandgras bedeckten Sanddünen, all das lassen tief verschüttete Erinnerungen in mir hoch steigen. Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit, als ich als Kind das erste Mal auf Sylt war. Obwohl nun schon eine Ewigkeit vergangen ist, bekomme ich immer noch dieses beklemmende Gefühl, wenn ich an diese Zeit denke. Und umso länger ich in diesem Gefühl bleibe, desto mehr Erinnerungen steigen in mir hoch...
Es ist das Jahr 1957 oder 1958 und ich laufe mit einer Gruppe von gleichaltrigen Kindern den Strand von Westerland entlang. Wir Kinder müssen so zwischen 5 und 6 Jahre alt sein und sind mit dem Zug aus Hamburg hier angekommen. Man nennt es Verschickung, denn das Nordseeklima soll heilsam gegen meinen, wie die Ärzte es nennen "Schatten auf der Lunge", sein.
Wenn ich eine große Muschelschale am Strand sehe, stecke ich sie in meine braune Ledertasche, die mit einem langen Riemen über meiner Schulter hängt. Ich habe sie extra für diese Reise neu bekommen. "Da kannst du deine Spielsachen reinlegen", sagte Mutter zu mir. "Oder dein Butterbrot, wenn ihr einen Spaziergang am Strand macht. Es soll einen ganz langen Sandstrand und viele Sanddünen auf Westerland geben. Es wird dir bestimmt gefallen."
Nein, es gefällt mir hier überhaupt nicht. Ich fühle mich schrecklich einsam und allein unter all den fremden Kindern. Wann kann ich endlich wieder nach Hause fahren?
Die Stulle habe ich längst schon verdrückt, jetzt liegt nur noch das zerknüllte Butterbrotpapier in der Tasche, zusammen mit den gesammelten Muschelschalen. Wenn ich meine Finger in der Tasche bewege, höre ich die hohlen Muschelschalen aneinander schlagen.
Wir wohnen hinter den Dünen in einem großen reetgedeckten Haus aus roten Backsteinen und kleinen Fenstern und schlafen alle zusammen in einem Saal mit vielen nebeneinander stehenden Betten. Gegessen wird im Speisesaal mit ebenso vielen aneinandergereihten Tischen und Stühlen aus hellem Kiefernholz. Dort stinkt es den ganzen Tag über nach Kohl, altem Fett und lauwarmen Pfefferminztee, der in riesigen Kannen warmgehalten wird. Diesen Tee gibt es den ganzen Tag rauf und runter und zu jeder Mahlzeit. Er ist nie richtig heiß und wird nie alle. Diesen typischen Pfefferminzgeruch, gepaart mit dem ständigen Fettgeruch aus der Küche, habe ich heute noch in meiner Nase. Jetzt wird mir klar, warum ich Kaffeetrinker geworden bin.
Meine Mutter brachte mich am Abreisetag zum Hamburger Hauptbahnhof und begleitete mich bis ins Zugabteil, wo wir Kinder uns dann von unseren Eltern verabschieden mussten. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass SIE mich einfach so wegschickte. Ich wollte nicht weg, nicht weg von IHR, und das wusste sie genau. Wie konnte sie nur den ganzen Tag über meinen flehenden Gesichtsausdruck ignorieren und es zulassen, dass wir getrennt wurden? Ich fühlte mich von ihr abgeschoben und verraten. Warum schickt sie mich nur fort? Liebt sie mich denn nicht mehr?
Während der Zug sich langsam in Bewegung setzte, liefen viele Eltern auf dem Bahnsteig neben den heruntergezogen Abteilfenstern entlang und verabschiedeten sich lautstark winkend und mit noch jeder Menge gutgemeinten Ratschlägen von ihren Lieben, die sich grölend weit aus den Fenstern hinauslehnten, um noch die ein oder andere Elternhand zu erwischen.
Und plötzlich, buchstäblich in letzter Sekunde, während der Zug bereits Fahrt aufnahm, wich sie meinem flehenden Blick nicht mehr länger aus sondern sah mich geradewegs offen an. Schlagartig lösten sich alle Schatten der letzten Tage aus ihrem Gesicht und ihre Augen flüsterten mir die Worte zu, auf die ich so sehnlichst gewartet hatte: "Ich will nicht, dass du gehst. Ich will nicht, dass man uns trennt. Wie soll ich es nur ohne dich so lange aushalten. Komm ganz schnell wieder zur mir zurück, mein Junge."
Endlich war sie wieder da, diese vertraute Sprache, diese Nähe, die nur zwischen uns beiden bestand. Wir brauchten keine Worte, um uns zu verständigen. Ich konnte in ihrer Mimik fühlen, was sie meinte. Und SIE sah, dass ICH es bei ihr sah.
Laut rief sie mir ins offene Abteilfenster: "Wenn du wiederkommst, stehe ich hier auf dem Bahnsteig und winke dir mit deinem Teddy zu, dann kannst du mich gleich erkennen". Es war ihr flehender Versuch einer Entschuldigung, dass sie mich so einfach in diesen Zug steckte und wegschickte.
Der Zug schnaufte und keuchte und seine riesigen, braunen Qualmwolken umnebelten das Gesicht meiner Mutter, bis sie schließlich ganz in den Nebelschwaden verschwand.
Heute darf ich das erste Mal nach meinem Fieber wieder mit den anderen Kindern an den Strand gehen. Sie nannten es Mumms und ich lag ein paar Tage auf der Krankenstation. Wenn ich schlucke, tut es immer noch etwas weh, aber ich lasse es mir nicht anmerken.
Ich sehe mich immer noch in diesem Krankenhausbett liegen, ganz allein in einem kleinen Zimmer. Mein Körper glüht vor Fieber. Ab und zu darf ich ein richtiges Eis essen oder muss einen Eiswürfel aus Wasser lutschen. Das ist toll, das bekommt sonst keiner. Als eine Krankenschwester mein Fieber messen will, muss ich mich auf den Bauch legen und sie steckt mir das Thermometer hinten rein und deckt die Bettdecke darüber. "Du musst jetzt ganz still liegen bleiben und darfst dich nicht bewegen, hörst du?" sagt sie zu mir. "Ich komme gleich wieder zurück."
Und ich wartete... und wartete... doch sie kam nicht wieder zurück. Sie hatte mich vergessen.
So liege ich nun schon eine ganze Weile auf dem Bauch und habe Angst mich zu bewegen, denn die Bettdecke drückt immer stärker auf das Thermometer, das aus meinem Körper ragt. Langsam bekomme ich Panik und fange an zu rufen: "Hallo. Hallo, hört mich jemand?" Aber da ist niemand. Man hatte mich vergessen.
"Wollen wir was zusammen singen?" fragt mich plötzlich eine Stimme. "Kennst du: Weißt du wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelzelt?" Und ob ich das kenne, antworte ich, das ist mein Lieblingslied.
Heute kann ich mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er hieß oder wie er aussah und wo er so plötzlich herkam. Damals war es nichts Besonderes für mich, das er einfach so auftauchte. Es passierte öfters. Er kam meistens dann, wenn ich mich allein fühlte. Wir spielten dann zusammen irgendetwas oder er erzählte mir eine Geschichte. Manchmal brachte er auch noch einen Freund mit. Es war immer sehr lustig und spaßig und die Zeit verging dann wie im Fluge. In den letzten Jahren habe ich öfters mal versucht mich an seine Erscheinung zu erinnern, aber es wollte sich einfach kein Bild bei mir einstellen.
Während wir so zusammen dieses Liedchen sangen, vergaß ich völlig Zeit und Raum. Irgendwann ging dann die Tür auf und die Krankenschwester kam herein. "Um Gottes Willen, dich habe ich ja ganz vergessen. Du bist aber auch ein tapferer Junge", murmelte sie schuldbewusst vor sich hin und befreite mich aus der misslichen Lage. Ich hatte das Thermometer völlig vergessen.
Endlich war der von mir herbeigesehnte Abreisetag da und wir fuhren wieder nach Hause. Als der lange Zug langsam in den überdachten Hamburger Bahnhof hinein fuhr, hatten einige Kinder wieder die Abteilfenster heruntergezogen und hielten ihre Köpfe grölend in den Fahrtwind, während andere versuchten, ihre Eltern auf dem herannahenden Bahnsteig zu erspähen. Man sah aber nur einen großen Menschenhaufen, aus dem viele Hände herausragten, die sich aufgeregt winkend hin und her bewegten, während der Zug immer langsamer wurde.
Und plötzlich ragte ER über allen Köpfen unübersehbar heraus: Mein Teddy, den meine Mutter über ihren Kopf wild hin und her schwenkte. Das war UNSER Zeichen, sie hatte es nicht vergessen. Lautstark rief ich ihr zu, aber der Lärm und der dreckige Qualm der Lok legte alles in einen dicken Teppich aus grauem Nebel.
Mit quietschenden Bremsen kam der Zug zum Stehen. Mit einem lauten Getöse sprangen die Türen auf und nun gab es ein großes Gedrängel. Während die Kinder es kaum abwarten konnten, den Zug zu verlassen, strömten die Eltern gleichzeitig hinein. Meine Mutter natürlich in vorderster Front, immer noch tapfer den Teddy hochhaltend. Sie hatte mich in dem Durcheinander noch nicht entdeckt. Gleich war die endlose Zeit des Wartens vorbei. Gleich würde sie mich in ihre Arme nehmen.
Als Mutter mich diesen Abend zu Bett brachte, war mein Spielkamerad auch anwesend. Still schaute er uns aus einer Ecke des Zimmers zu. Als Mutter und ich unser Gutenacht-Lied "Weißt du wie viel Sternlein stehen" anstimmten, entschwand er ganz sanft. Er wusste, heute wurde er nicht mehr gebraucht. Ich war wieder zu Hause. Ich war wieder bei IHR.
"Woran denkst Du gerade?" fragt mich Sylvie, während wir eingehakt weiter am Strand entlanggehen.
"Ach, mir fiel gerade ein alter Freund ein, den ich schon fast vergessen hatte", antworte ich ihr. "Wenn wir gleich einen heißen Kaffee trinken, dann würde ich Dir gerne einmal von ihm erzählen."
* Verschickung war nach 1945 der Sammelbegriff für das Verbringen von Klein- und Schulkindern in Kindererholungsheimen und -heilstätten, wegen gesundheitlicher Probleme wie Unterernährung und Erkrankungen an Tuberkulose oder Kinderlähmung. Die Kleinkinder wurden in Sammeltransporten "verschickt".
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Siehe auch:
Verschickung in Kinderkur- und -Erholungsheime in den 50er bis 80er Jahren (Quelle: verschickungsheime.de) ➚ Weiterlesen
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