Erwachsen - und doch gefangen im Kindverhalten
Kapitel: 8
Erwachsen - und doch gefangen im Kindverhalten
Die Urverletzung und ihre Folgen
von Sylvia Reifegerste
Kapitel 8:
Unsere Überzeugungen: Ist Ihre Persönlichkeit (noch) passend?
Liebe Leserin, lieber Leser.
Im letzten Kapitel haben wir uns die Dinge angeschaut, die uns am häufigsten von unseren Zielen und Wünschen abbringen. Hierzu gehört noch ein weiterer Punkt und das sind:
Ihre Überzeugungen
Besser gesagt: Es geht darum, von was Sie überzeugt sind und wie es zu diesen Überzeugungen gekommen ist.
Wie bereits erwähnt, stammen die meisten Glaubensmuster und Verhaltensweisen aus unserer Kindheit. Je nach unserem Naturell passen wir uns an oder gehen in den Trotz, in die Auflehnung, oftmals ist auch findet auch beides statt. Hinter beiden Haltungen Anpassung und Trotz verbirgt sich ein kindliches, also ein gefärbtes Verhalten. Was würden Sie mir sagen, wenn ich Sie bitte, Ihre Kleidung aus der Kindheit wieder zu tragen? Mal abgesehen, dass Ihnen die Kleidung von der Größe nicht mehr passen würde. Vermutlich würde sie Ihnen vom Stil her auch nicht mehr gefallen. Sie sind Hundert Prozentig aus Ihrer Kinderkleidung herausgewachsen.
So wie Sie nicht mehr in Ihre Kinderkleidung passen, so passen Sie auch nicht mehr in Ihre kindlich gefärbten Sicht- und Verhaltensweisen hinein.
Das Gleiche trifft auch auf Ihre Überzeugungen zu, denn auch sie stammen meist aus der Vergangenheit oder sogar noch aus Ihrer Kindheit.
Da jedes Glaubensmuster eine Bestätigung benötigt, suchen wir im Laufe unseres Lebens Beweise dafür, dass sie richtig sind. Dadurch ziehen wir Situationen an, die uns bestätigen, dass die übernommenen Denkmuster unserer Familie richtig sind.
Beispiel:
Ein Kind wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Es bekommt viel Liebe und Zuwendung, jedoch nur wenig Materielles. Die Eltern glauben daran, dass das Geld nicht auf der Straße liegt und sie sich alles hart erarbeiten müssen. Sie haben sich mit ihrer Situation abgefunden und vertreten die Meinung:
Lieber arm sein und Zeit für die Familie haben, statt reich zu sein, aber dafür keine Zeit mehr für Familie und andere wichtigen Dinge in Leben zu haben.
Dieses Kind wird später Situationen anziehen, bei denen es genau um dieses "Familien-Muster" oder Glaubensmuster oder Überzeugungsmuster geht, was da heißt:
Das bedeutet: Das Kind wird später entweder zur gleichen Auffassung oder Überzeugungsmuster der Eltern gelangen und sich mit weniger Geld zufrieden geben, oder es wird ins andere Extrem gehen und sich für das Geld und den Reichtum entscheiden, was dann jedoch zu Lasten der Familie und der Freizeit gehen wird. In jedem Fall wird das Familien-Glaubens-Muster bestätigt, ob das Kind nun genauso leben wird wie ihre Eltern oder ob es ins andere Extrem geht. Auf die Idee, dass es außer diesen beiden extremen Einstellungen ja noch diverse andere Möglichkeiten gibt, wird das Kind erst durch eigene Erfahrungen kommen müssen.
In dieser Form entstehen die meisten Glaubenssätze.
Das Fatale ist, dass wir von den meisten Glaubenssätzen so überzeugt sind, dass wir später nicht mehr bereit sind, davon wieder abzurücken. Im Gegenteil, meistens versuchen wir sogar andere Menschen von unseren Überzeugungen zu überzeugen. Weil WIR es so erlebt haben, glauben wir, dass wir im Recht und unsere Überzeugungen richtig sind. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass andere Menschen auch andere Erfahrungen machen können, sofern sie an etwas anderes glauben. Hinzu kommt, dass unsere Erfahrungen durch unsere Glaubenssätze geprägt wurden und daher einschränkend sind. Unsere Überzeugungen sind daher immer nur eine Essenz aus vergangenen Erfahrungen und zeigen, aus welchem Blickwinkel wir geschaut haben.
Die Grundprägungen aus der Kindheit begleiten uns solange, bis wir bereit sind zu erkennen, wer und was wir wirklich sind.
Solange wir die Grundprägungen oder auch Grundüberzeugungen unserer Eltern in uns tragen, richtet sich unser Fokus auf ein ähnliches Umfeld, sodass wir größtenteils auch ähnliche Dinge und Personen wie unsere Eltern anziehen. Mit dem von unseren Eltern gefärbten Blickwinkel, werden wir später die gleichen Erfahrungen wie sie machen. Und mit jeder weiteren Erfahrung kommen wir zum Ergebnis, dass wir letztendlich 100%ig davon überzeugt sind, dass die Dinge oder das Leben genauso und nicht anders funktioniert.
Um dies zu verdeutlichen, machen Sie bitte einmal die folgende Übung:
Stellen Sie sich bitte vor einem größeren Spiegel. Schauen Sie in den Spiegel und nehmen Sie wahr, was sich Ihnen im Spiegel zeigt. Lesen Sie bitte erst weiter, wenn Sie in den Spiegel geschaut haben und notieren Sie, was Sie im Spiegel gesehen haben. Falls Sie keinen großen Spiegel haben, können Sie die Übung auch mit einem Handspiegel machen.
Was haben Sie wahrgenommen? Sich selbst und wenn ja, haben Sie sich im Ganzen gesehen oder nur einen Teil von Ihnen?
Falls Sie nur wenig im Spiegel gesehen haben, machen Sie die Übung bitte nochmal und schauen Sie jetzt ganzheitlich. Schauen Sie dabei rechts, links, über und unter sich und nehmen Sie wahr was sich Ihnen zeigt. Betrachten Sie sich anschließend aus der Vogelperspektive. Vielleicht gibt es ja auch noch andere Perspektiven, aus denen Sie sich im Spiegel anschauen möchten?
Ein Spiegel gibt immer nur das wider, was wir sehen "wollen".
Wenn wir genauer hinschauen, zeigt er jedoch auch noch mehr. Normalerweise betrachten wir uns im Spiegel und schauen dabei auf unser Gesicht oder auf die Kleidung, unser Erscheinungsbild usw. Dabei betrachten wir immer nur einen Teil oder einen bestimmten Ausschnitt. Wenn wir uns die Zeit nehmen, können wir erkennen, dass der Spiegel noch viel mehr Dinge widerspiegelt, als wir bewusst wahrnehmen.
Genauso wie wir in den Spiegel schauen und nur einen Teil wahrnehmen, so nehmen wir durch unsere Erziehung im Alltag in unserem Leben auch nur einen Teilbereich wahr. Wir nehmen den Bereich wahr, auf den wir unseren Fokus richten. Der Fokus richtet sich wiederum genau auf das, was wir in unserer Kindheit von unseren Eltern oder engsten Bezugspersonen übernommen haben.
Jeder Mensch wurde durch seine Familie geprägt. Das Verhalten unserer Eltern und engsten Bezugspersonen ist immer in uns vertreten, ob sich das nun in unserem Gang, unserer Sprache, Mimik, Gestik, Emotionen oder in Ängsten, Verhaltensweisen und Glaubensmustern widerspiegelt. Die Familienmuster werden häufig sehr lange von uns weitergeführt. Wie lange solche Muster aufrechterhalten werden, hängt davon ab, wie schnell wir uns aus der kindlichen Rolle und von vergangenen negativen Ereignissen befreit haben. Womit wir bei der Vergangenheit angelangt wären.
Es ist natürlich wichtig, sich auch mit vergangenen Dingen auseinanderzusetzen. Zum Beispiel ist es überaus wertvoll herauszufinden, wie und was in der Kindheit vorgefallen ist, um verstehen zu können, warum wir heute so sind wie wir sind. Wenn wir jedoch in der Vergangenheit hängenbleiben und uns immer wieder quälende Ereignisse in die Gegenwart holen, dann halten wir uns nicht nur in der Vergangenheit auf, sondern wir holen diese einschließlich der quälenden Gefühlen auch ins Hier und Jetzt zurück. Das hat zur Folge, dass wir uns im Jetzt schlecht fühlen, obwohl es hierfür gar keinen Anlass gibt.
Stellen Sie sich vor, Sie halten einen Spiegel in der Hand und beschäftigen sich nur mit dem was sich hinter Ihnen befindet. Was glauben Sie wird wohl geschehen, wenn Sie während Sie nach hinten schauen, versuchen vorwärts zu gehen? Sie werden aller Voraussicht nach Unsicherheit spüren, weil es nur mit großer Mühe möglich ist vorwärts zu gehen und auf Ihrem Weg zu bleiben. Denn, um vorwärts zu kommen, ist es wichtig nach vorne zu schauen. Genauso verhält es sich auch mit der Vergangenheit.
Wenn Sie sich ständig um vergangene Dinge kümmern, verlieren Sie den Überblick über das Heute und über Ihre Ziele.
Wenn wir uns die Zeit nehmen und aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln schauen, dann nehmen wir sehr viel mehr wahr und kommen auch zu neuen Überzeugungen.
Es lohnt sich immer, die kindlichen Blickwinkel zu hinterfragen und zu lernen, aus unterschiedlichen Richtungen zu schauen. Ebenso lohnt es sich, immer wieder den eigenen Fokus neu zu bestimmen.
Je erweiterter unser Blickwinkel ist, desto mehr nehmen wir wahr. Wir können dadurch auch mehr Chancen und Möglichkeiten oder Lösungen wahrnehmen.
Hierbei zählt allerdings nicht nur, wie viel wir wahrnehmen sondern auch WIE wir es wahrnehmen. Richten wir unseren Fokus auf Lösungen, Chancen und Möglichkeiten, werden wir diese erkennen. Wenn wir unseren Blickwinkel auf Probleme, Ängste und Zweifel richten, werden wir überall ein Haar in der Suppe finden.
Wie wir etwas wahrnehmen und ob wir einen positiven oder negativen Blickwinkel haben, hängt mit unserer Grundeinstellung zusammen. Unser Leben besteht aus vielen Erfahrungen. Unser persönliches Empfinden entscheidet dabei, wie wir unsere Erfahrungen erleben. Wir bestimmen somit selbst, ob wir eine Erfahrung als gut und wertvoll oder als sinnlos und überflüssig empfinden. Indem wir unsere Sichtweise ändern und in jeder Erfahrung einen Sinn erkennen, bringen wir gleichzeitig unsere Grundeinstellung in eine positive Richtung.
Um das optimale im Leben erreichen zu können, ist es wichtig, eine ganzheitliche Sichtweise zu haben. Daher ist es unerlässlich, bei allem was uns begegnet, auf die Suche nach dem positiven und gleichzeitig auch nach dem negativen Aspekt zu gehen.
Schauen Sie sich mehrere negative Situationen an. Suchen Sie nun den positiven Aspekt im Negativen. Machen Sie das gleiche mit positiven Situationen. Suchen Sie hier das Negative im Positiven.
Machen Sie diese Übung ebenfalls mit Menschen:
Lernen Sie übergeordnet zu schauen, indem Sie einfach nur wahrnehmen.
Diese kleine Übung schult unsere ganzheitliche Wahrnehmung und verändert zudem unsere Sichtweise.
Die Bedeutung, die wir bestimmten Dingen und Personen geben und die Gefühle die wir erleben, hängen von unserer Sichtweise und unserem Blickwinkel ab. Dabei spiegelt der Blickwinkel immer nur eine von vielen Möglichkeiten wider. Er hängt somit unmittelbar mit unserer Wahrnehmung zusammen und diese hat nicht zwingend etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Unsere Sichtweise und unser Blickwinkel zeigen immer nur einen Teil-Ausschnitt des Lebens, nämlich den Teil, den wir als wichtig erachten.
Im nächsten Kapitel geht es um die Urverletzung und welchen enormen Einfluss die Urverletzung auf unser Leben hat.
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